Vom Wesen der Dinge


Vom Wesen der Dinge

Wie viele Dinge braucht der Mensch? Das ist eine Frage, die immer wieder gestellt wird. Etwa 10.000 Dinge soll jeder Deutsche in etwa besitzen. Zumeist Gegenstände, die er zu einem großen Teil nicht benutzt. Doch all die Dinge, auch wenn sie nur herumstehen, prägen unseren Alltag.

Längst hat sich eine Anti-Konsum-Bewegung aufgemacht, dieses ständige Zuviel in Frage zu stellen. Es gibt Menschen, die haben nur 300 Dinge. Wie viel intensiver muss ein Leben mit so wenigen Dingen sein? Und dann gibt es noch die ganz besonderen Dinge. Die Dinge, ohne die es nicht geht. Die persönlichen Kostbarkeiten. Die Dinge, die eine Geschichte über uns selbst erzählen.

In der Fotokunst ist das Fotografieren von Dingen kein so großes Thema. Die Objekt- Fotografie ist das Terrain der Werbung, doch die Serie Sarah Johanna Eicks, von der hier die Rede sein soll, hat einen ganz anderen Hintergrund: Es sind bedeutsame Gegenstände, die sie, ohne ihre Besitzer, fotografiert. Gebrauchsgegenstände oder auch Dinge, die mit einer wichtigen Erinnerung verbunden sind, welche die Individualität ihres Besitzers unterstreichen.

Vor weißem Hintergrund, ganz schlicht, fotografiert sie die Dinge. Ein Sakko (es ist jenes von Max Ernst), ein Rasierpinsel, ein Buch, eine Mütze, eine Brille, ein Reisepass – allesamt fotografiert mit der alte Hasselblad-Kamera ihres verstorbenen Vaters. Seinem Lieblingsstück, das schon sehr viel in der Welt gesehen hat.

Sarah Johanna Eick hat ebenfalls schon viel in der Welt gesehen. Ihre in den USA entstandenen Fotografien sind bekannt geworden, entrückte Szenen aus dem amerikanischen Alltag. In ihren neuen Serie geht sie aber einen ganz anderen Weg: Sie muss nicht in die Welt hinaus, um Geschichten zu erzählen. Sie fokussiert auf das Wesen der Dinge.

Ihre fotografischen Stillleben sind kaum inszeniert – und dennoch staunen wir: Wie viel Leben in diesen Dingen steckt! Oder besser: Die Fotografie macht das Leben in den Dingen

sichtbar. Warum galt und gilt bis heute das Stillleben in der Fotografie – wie auch in der Malerei – so wenig? Fragen wir uns beim Betrachten dieser faszinierenden Bilder.

In ihrer schlichten Präzision lassen diese Fotografien an Vorbilder wie etwa Albert Renger- Patzsch denken, einem jener Künstler, der in den zwanziger Jahren das Medium der Fotografie mit großem Selbstbewusstsein weiterentwickelte. Sein neusachlicher Stil, vor allem sein Buch „Die Welt ist schön“ wird heute als Ikone der modernen Fotografie gefeiert.

Die Welt ist schön. So könnte die neue Serie von Sarah Johanna Eick auch heißen. Und an einen anderen großen Fotografen könnte man beim Betrachten dieser Bilder ebenfalls denken. An Stephen Shore, dessen Aussage „Eine Fotografie hat Ränder, die Welt nicht“ sich in seinem berühmten Buch „Das Wesen der Fotografie“ findet. Das Buch handelt von der Art und Weise, wie Fotografien in unserem Kopf ein Eigenleben bekommen können und von der Tatsche, dass die geistige Arbeit des Betrachters das fotografische Kunstwerk erst vollendet.

Und so ist es auch bei Sarah Johanna Eick: In der Betrachtung der Bilder kann man sich verlieren. In den Details. In dem, was tatsächlich zu sehen ist. Mehr aber noch in dem, was die Bilder der persönlichen Dinge verschweigen oder andeuten. Man kann hier auf eine weite Reise gehen, ohne den Fuß vor die Tür setzen zu müssen.

Den Dingen, sagt Sarah Eick, wohnt eine Seele inne. Doch nicht allen. Nur jenen, die vom Menschen, die durch beständigen Gebrauch belebt worden sind. Auch diese Frage stellt die neue Serie: „Wie viele der Dinge bekommen heute noch eine Seele – oder ist inzwischen alles ersetzbar?“

Es ist wundersam, wie sehr manche Dinge für eine Person stehen. Sei es die Pfeife von Günther Grass oder der Ledermantel des früh verstorbenen Dichters und Regisseurs Thomas Brasch – über den Christoph Rüter, ein Freund Braschs, schreibt: „Thomas Brasch hat seine Lederhaut immer sehr geliebt: Lederjacken, Ledermäntel. In denen fühlte er sicher. Nie Lederhosen. Diesen Mantel hat er besonders geliebt. Der empfindliche Dichter der Schutz suchte. Und den fand er manchmal in seinem Ledermantel. In seiner Lederhaut. Trotzdem hat er alles verloren. Und am Ende steht die nackte Wahrheit.“ Noch persönlicher für die Fotografin sind andere Gegenstände: die abgenutzte Ledertasche ihres Vaters oder der Rasierpinsel des Großvaters.

All diese Dinge, wie auch das Malbesteck des Künstlers Detlef Baltrock etwa oder der Füller von Christian Lindner , sind verschlissen, poetisch aufgeladen durch das Leben selbst, das sich in das Material eingeschrieben hat. Diese besonderen Dinge festzuhalten ist auch eine Idee der Serie. Das Besondere zu erkennen, in einem Meer der Dinge.

Marc Peschke